28. März 2006: Wie in Berlin 200 ehemalige Stasi-Offiziere die Abrechnung mit ihren Opfern öffentlich und unter Billigung des PDS-Kultursenators Flierl zelebrieren konnten, habe ich gestern in MDR Fakt gesehen. Hier der Kommentar von Hubertus Knabe (Quelle: Welt am Sonntag) zu dem unglaublichen Vorfall, der mich erschaudern ließ.

 

Die Täter sind unter uns

von Hubertus Knabe (Hubertus Knabe leitet die Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Zentralgefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Er fordert einen neuen Umgang mit der DDR-Vergangenheit)

Als sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages den neuen Stasi-Film "Das Leben der Anderen" ansahen, lobten sie das Werk als vorbildlichen Beitrag zur Aufklärung über die jüngste Vergangenheit. Willkür, Überwachung und Terror im DDR-Unrechtsstaat - so plastisch war dies bisher noch nie auf deutschen Leinwänden zu sehen.

Wenn die Volksvertreter aber der Meinung waren, es handele sich hier um einen historischen Stoff, so saßen sie einem Irrtum auf. Nur wenige Tage vor dem Kinostart trat die Stasi in Berlin auf sehr reale Weise in Aktion. Bei einer Veranstaltung über die Gedenkstätte im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen marschierten über 200 Offiziere des DDR-Staatssicherheitsdienstes auf und verhöhnten öffentlich ihre Opfer.

Der Auftritt, der in der Hauptstadt seit Tagen für Schlagzeilen sorgt, hat schlagartig vor Augen geführt, daß die Stasi auch 15 Jahre nach dem Untergang der DDR nicht tot ist. Generalstabsmäßig organisiert, gelang es den Ex-Offizieren, unter ihnen die Mielke-Stellvertreter Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz, eine harmlose Bürgerversammlung zu einer Abrechnung mit ihren Opfern umzufunktionieren. Zynischer Höhepunkt des Abends war die Erklärung des ehemaligen Chefs aller Stasi-Gefängnisse, die Häftlinge in der ganzen DDR hätten sich danach gedrängt, in sein Arbeitslager nach Hohenschönhausen zu kommen. Daß der anwesende PDS-Kultursenator Thomas Flierl den Offizieren nicht entgegentrat, sondern sie als "Zeitzeugen" ansprach, brachte ihm auch beim Regierungspartner SPD heftige Kritik ein.

Der Eklat in Berlin ist nur der vorläufige Gipfelpunkt einer längeren Entwicklung. Ehemalige Stasi-Kader und andere DDR-Funktionärsgruppen haben sich seit Jahren in schlagkräftigen Organisationen zusammengeschlossen. Das Internet ist voll mit Seiten, in denen das SED-Unrecht geleugnet und ein unverhohlener Geschichtsrevisionismus gepredigt wird. Dutzende Bücher sind im Handel, in denen der Terror des Staatssicherheitsdienstes auf zynische Weise gerechtfertigt wird. Seit dem vergangenen Jahr wird deutschlandweit mit einer Broschüre agitiert, in der die Gedenkstätte im zentralen Stasi-Gefängnis als "Gruselkabinett" bezeichnet wird.

Daß es zu einer solchen Wiederauferstehung des totgeglaubten Staatssicherheitsdienstes kommen konnte, liegt vor allem an der Nachsicht, mit der man nach der Wiedervereinigung den entmachteten DDR-Kadern begegnete. Statt die Diktaturpartei - wie in Rußland - zu verbieten, beließ man ihr sogar große Teile ihres Vermögens. Statt ihre Geheimpolizei - wie nach 1945 - zur verbrecherischen Organisation zu erklären, sitzen deren Zuträger heute im Bundestag.

Der Entschluß, den Großteil der DDR-Funktionärsschicht unbestraft zu lassen, führte nicht - wie erhofft - zur Versöhnung, sondern zu einer trotzigen Jetzt-erst-recht-Haltung der ehemaligen Unterdrücker. In dem Maße, wie die dreimal umbenannte SED politisch hoffähig wurde, gewannen auch die Stasi-Mitarbeiter das Gefühl, daß sie sich nicht mehr zu verstecken brauchten.

Mindestens ebenso schwer wie die politische Nachsicht wirkt sich die juristische Sanftmut aus, mit der der Rechtsstaat auf das SED-Unrecht reagierte. Von den 91 000 Mitarbeitern des DDR-Staatssicherheitsdienstes mußte nicht einmal ein Dutzend ins Gefängnis - für Mielkes Offiziere heute ein Beweis, daß sie sich nichts zuschulden kommen ließen. Statt sie zu bestrafen, und wenn auch nur pro forma, bescherte das Bundesverfassungsgericht aus einem falsch verstandenen Gleichheitspostulat den DDR-Funktionären sogar immer neue Rentenanhebungen. Während die Stasi-Opfer seit Jahren auf eine angemessene Pension warten, zahlen allein die neuen Länder jährlich rund 3,5 Milliarden Euro für die von der SED geschaffenen Sonderversorgungssysteme der Privilegierten. In Kürze wird der Deutsche Bundestag auch noch die "Dienstbeschädigungen" früherer Stasi-Mitarbeiter bei der Rentenberechnung anerkennen.

Daß die meisten SED- und Stasi-Funktionäre heute keinerlei Unrechtsbewußtsein haben, liegt auch daran, daß sie in Deutschland immer vor der Folie des Nationalsozialismus betrachtet werden. Die Fixierung auf die Verbrechen der Nazis hat die Deutschen nicht sensibler, sondern fast blind gemacht für die Untaten anderer Regime. Warum ist es in Deutschland erlaubt, vor einer Stasiopfer-Gedenkstätte die Opfer zu verhöhnen, während dies vor einem KZ verboten ist? Warum darf man ungestraft mit den Symbolen der SED-Diktatur auf der Straße spazieren, während der Hitler-Gruß eine Straftat ist? Weshalb darf man den Massenmord im Gulag oder die Foltermethoden in Stasi-Gefängnissen bestreiten, während die Leugnung des Holocaust verboten ist? Daß die beiden Diktaturen in Deutschland derart mit zweierlei Maß gemessen werden, verbittert nicht nur die Opfer der Stasi. Sie bestärkt vor allem die Täter in ihrem gewissenlosen Selbstbewußtsein.

Zumindest in Berlin hat der Aufmarsch der Stasi-Offiziere die Politiker jetzt aufgerüttelt. Die Parteien des Abgeordnetenhauses haben sich am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde schützend vor die Stasi-Opfer und ihre Gedenkstätte gestellt. Am 4. April sollen ehemalige Häftlinge im Landesparlament aus ihren Erfahrungsberichten lesen. Bleibt zu hoffen, daß diese spontane Solidarität nicht nur vorübergehender Natur ist. Und daß sich auch die Abgeordneten des Bundestags den Schrecken der Stasi nicht nur im Kino widmen.

Hubertus Knabe hat zahlreiche Bücher geschrieben, darunter "Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien" (Propyläen 2001).

Zuletzt erschien "Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland" (Propyläen 2006)