Ich sehe die Entscheidung über die Öffnung auch nicht als das Ergebnis eines Wettlaufes um die schnellsten Erleichterungen in der Corona-Krise. Diesen Platz auf dem Siegerpodest hat ohnehin schon die Fußball-Liga eingenommen. Nein, die Entscheidung des Kultusministerium, übrigens flankiert unter anderem vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, ist die logische Folge der Entwicklungen der letzten paar Wochen: dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit, der Öffnung anderer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bereiche, dem Druck der Wirtschaft schlechthin, die Eltern als Arbeitnehmer braucht, der Finanzierung von Kita-Betreuung durch die öffentliche Hand ohne Gegenleistung (die Entwicklungsgeschichten sind jetzt alle geschrieben, der Boden aufgeräumt, die Fenster geputzt, neue Regale gebaut, Grußbotschaften im Netz und per Post an die Daheimgebliebenen verschickt usw.), gleiches gilt für die Elternbeiträge. Das ganze wird flankiert von einer vergleichsweise positiven Entwicklung der Infektionszahlen.

 

Wir erinnern uns: So Mitte April wurde auf einmal der Ruf in der Öffentlichkeit laut: „Denkt auch mal an die Kinder!“ Das war der Zeitpunkt, wo nach einem ziemlich umfassenden Lockdown am 17. April für viele Bereiche Lockerungen verkündet wurden. Ursprünglich dachten zu Beginn der Corona-Pandemie viele, nach Ostern, am 20. April gehen die Kitas und Schulen wieder an den Start. Ich kenne viele, die felsenfest davon überzeugt waren, dass Kita-Betreuung dann wieder uneingeschränkt möglich sein würde. „Vier Wochen Schließung, na gut. Aber länger – niemals, unvorstellbar!“ Ich fürchte, unter denen, die sich über die Öffnung jetzt beklagen, sind viele, die damals genau diese für die Zeit nach den Osterferien erwarteten. Seit diesem Zeitpunkt wurde in den sozialen Netzwerken und in der allgemeinen Öffentlichkeit ein wachsender Druck aufgebaut, die Kita-Betreuung zu erweitern. Die Kritik, dass zuerst an Baumärkte, Fußballer etc. gedacht würde, vernachlässigt, übrigens, dass es von Anfang an für einen Teil der Kinder eine – in der Folge immer wieder erweiterte – Notbetreuung gegeben hat. Nach meiner Wahrnehmung wurde die ganze Zeit auch an die Kinder gedacht.

 

Alle, die jetzt die „überhastete Öffnung der Kitas“ beklagen, vergessen, dass es bereits am 13. April eine Empfehlung der Leopoldina gegeben hat, die eine möglichst schnelle Öffnung von Kitas und Schulen forderte, zugegeben: für Kitas bis zu den Sommerferien nur in einem Notbetrieb. Ich habe mich nach dem Erscheinen dieser Studie daran gemacht, mir Konzepte auszumalen, wie ich die Kita, die ich leite, unter den gegebenen Umständen wieder öffnen könne.

Übrigens: Seit 15. April haben in Dänemark alle Kitas und Grundschulen wieder komplett geöffnet - mit "Kiss-and-Go-Zonen" außerhalb der Einrichtungen, wie wir sie jetzt auch planen. Die Öffnung in Dänemark hatte Mitte April wurde von vielen Menschen hier als Blaupause für Forderungen nach weiteren Öffnungen genommen. Und tatsächlich haben sich die Fallzahlen in Dänemark seitdem halbiert. (Update vom 16.05. 2020)

 

Ich bin bei der Variante der Notbetreuung und der Einhaltung von Abständen in kleinen Gruppen, so wie wir sie im Augenblick noch durchführen und wie die GEW sie jüngst auch für die Zukunft fordert, ziemlich schnell an die Grenzen des Machbaren gestoßen. Und klar: meine Kita muss nicht für alle stehen, vielleicht ist sie sogar die große Ausnahme. Aber jedenfalls kann man mir nicht den Vorwurf machen, ich würde an der Praxis vorbei Entscheidungen am Schreibtisch treffen. Ich bin schon unmittelbar mit den Problemen beschäftigt. In meiner Kita sind im Augenblick knapp die Hälfte der betreuten Kinder anspruchsberechtigt für eine Notbetreuung. Damit bin ich an der Grenze dessen angelangt, was ich mit Abständen und kleinen Gruppen personell und räumlich leisten kann. Mehr geht nicht. Alle, die jetzt weitere Schritte der Ausweitung der Notbetreuung fordern, laufen in dasselbe Dilemma hinein, in dem wir uns auch befinden, wenn wir die Kita gleich für alle öffnen: Mit Abstand halten und kleinen Gruppen geht es nicht mehr! Ganz abgesehen davon, dass ich die Erweiterung der für die Notbetreuung berechtigten Familien auch gut begründen muss. Welche Berufsgruppen wähle ich? Oder welche Kindergruppen? Z. B. Vorschulkinder, das hatte ich erwartet, nicht weil die noch Vorbereitung auf die Schule brauchen. (Das zeugt m. E. von einem falschen Bildungsverständnis. Wir bereiten unsere Kinder die ganze Zeit auf das Leben vor, bei dem Schule ein Bestandteil ist). Sondern weil Vorschulkinder eine schön abgrenzbare Gruppe wären (ebenso wie Alleinerziehende), die sich leicht begründen lässt. Also Vorschulkinder + Alleinerziehende: da wäre ich bei ca. 75 Kindern von 130.

 

Dann fragen natürlich diejenigen Eltern, die in Berufen arbeiten, die jetzt wieder an den Start gehen durch die Öffnungen: Kneipenbesitzer, Kellner, Fitnesstudiobetreiber, Hoteliers und ihre Angestellten, Theaterleute… die Liste der Berufe ist erweiterbar, der Druck der Arbeitgeber verständlich, all diese Menschen wieder zur Verfügung haben zu müssen. Wen schließe ich da aus? Was ist angeblich nicht systemrelevant? Übersetzt hieße das ja nichts anderes als: auf deine Arbeit kann man eigentlich verzichten. Und es fragen die Leute, die im HomeOffice gleichzeitig ihre Kinder betreuen und ihrem nicht systemrelevanten Beruf nachgehen, und auch das durchaus mit Recht.

 

Entweder ich sage denen: Nein, ihr leider noch nicht – aber da muss ich mir schon eine gute Begründung einfallen lassen. Es gibt ja schließlich den Rechtsanspruch auf den Kita-Platz. Oder ich öffne eben dann für alle. Mir erscheint das logisch. Die totale Öffnung und die schrittweise Erweiterung der Notbetreuung unterscheiden sich zumindest in meiner Kita nur marginal. Ich war zwischenzeitlich auch einmal bei einer Erweiterung der Anspruchsberechtigten für die Notbetreuung und Modellen wie Vormittagsbetreuung – Nachmittagsbetreuung. Das scheiterte beim genaueren Hinsehen ziemlich bald an personellen Engpässen. Die habe ich jetzt auch, keine Frage. Aber es ist eben kein Unterschied. Im Grunde genommen brauche ich in meinem 20köpfigen Team ca. 8 Leute mehr. Es ist schlichtweg ein Dilemma, und aus einem Dilemma gibt es keinen einzig guten Weg. Das wusste auch das Kultusministerium und die Menschen, die sie beraten.

 

Der Weg aus dem Dilemma, der gewählt wurde, war nun, einen Paradigmenwechsel zu verkünden. Nicht mehr: wenige Kinder mit viel Abstand, sondern alle Kinder mit strikter Trennung. Ehrlich: ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Ich wundere mich auch, dass derselbe Virologe, der vor zwei Wochen noch kühn behauptete, eine Öffnung der Kitas wäre möglich, wenn man nur kleine Gruppen und große Abstände gewährleiste, auf der Pressekonferenz nun genau das Gegenteil verkündete.

 

Aber ich sehe die Sache pragmatisch. Erstens hatten wir in der Kita, ich wage es wirklich zu behaupten, eine wundervolle Corona-Zeit! Dafür sind wir dankbar. Wir hatten Zeit, all die Dinge zu tun, zu denen wir sonst nie gekommen waren. Ich persönlich hatte sogar zusätzlich Zeit für meine eigenen zwei Kinder, die die Grundschule (nicht) besuchen und mit denen ich zuhause abwechselnd mit meiner Lebensgefährtin Homeschooling betrieb. Wir hatten – anders als viele andere – jederzeit finanzielle Sicherheit, weil die Kitas weiter durch Land und Kommunen finanziert wurde. Keine Kurzarbeit, keine Entlassung. Und wir konnten die wunderbare Erfahrung in der Kita machen, wie sich pädagogische Arbeit mit wenigen Kindern anfühlt, welche Entwicklungen da möglich sind. Ich habe jeden Tag, den ich in der Kita war, mit Wonne Kinder beobachtet, die sich in den kleinen Gruppen frei entfalten und sich der angemessenen Aufmerksamkeit ihrer Erzieher erfreuen konnten. Das freilich deutet auf das tatsächliche Defizit hin, aber dessen Ursache liegt weit in der Vergangenheit: der schlechte Betreuungsschlüssel in Sachsens Kitas. Diesem Dilemma, resultierend aus schon lange erkannten Versäumnissen der letzten 15 Jahr, entkommt man nun aber nicht so schnell, nicht bis zu den Sommerferien, nicht bis zur Bereitstellung eines Impfstoffes oder einer Durchseuchung der Bevölkerung. Schlichtweg, weil es gar nicht genügend Fachkräfte gibt, die die kleinen Gruppen und von mir aus großen Abstände gewährleisten könnten. Deshalb gehen die wohlfeilen Forderungen der GEW auch ins Leere.

 

Deshalb markiert die Krise, in der wir uns befinden, hoffentlich tatsächlich einen Wendepunkt. Nicht nur, weil wir uns auch auf künftige Epidemien vorbereiten müssen, sondern im Interesse einer gelingenden Erziehung unserer Kinder, brauchen wir kleinere Gruppen und einen besseren Betreuungsschlüssel. Und vielleicht gibt es auch einen Wendepunkt hinsichtlich der Einschätzung und Wertschätzung der Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern – seitens der Eltern, die jetzt noch einmal einen ganz anderen Eindruck davon gewinnen durften, was für uns Alltag ist, nämlich den ganzen Tag Kinder um sich rum zu haben, und seitens der Wirtschaft, die erkennen muss, dass ohne verlässliche Kinderbetreuung so gut wie gar nichts geht, nicht mal im Home Office.

 

Für den Augenblick stellen wir uns, ohne zu jammern, den Herausforderungen und versuchen, das Beste für die Kinder dabei herauszuschlagen – mit Kreativität, Phantasie und Verantwortungsbewusstsein. Wir sind nicht diejenigen, die auf Anweisungen vom Kultusministerium warten, wie wir es genau machen sollen. Das kann das Ministerium gar nicht, weil es nicht die Verhältnisse in meiner Kita kennt, die nur eine von etwa 3000 in Sachsen ist. Es ist klug, die Vorgaben (etwa hinsichtlich der Gruppengröße) nicht zu fest zu schreiben. Kita-Leitungen und Träger sollten die Chance nutzen, eigenverantwortlich zu handeln. Der pädagogische Grundsatz der Fehlerfreundlichkeit, den wir zumindest in unserer Kita hoch bewerten, sollte auch hier gelten. Im Moment weiß vielleicht überhaupt niemand, was richtig ist. Die scheinbar ewigen Gewissheiten gehen seit ein paar Wochen den Bach runter, jeder Tag bringt neue Unsicherheiten. Das erinnert mich übrigens an die Zeit von 1989/90 – und gibt mir die optimistische Gelassenheit: Wir schaffen das!

(13.05.2020)